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Kunst trifft Achtsamkeit

30.09.2024

Kreativität ist eine komplexe und facettenreiche Fähigkeit, die von mehreren Faktoren beeinflusst wird. Es erfordert oftmals Mut, Neues auszuprobieren und Risiken einzugehen, was vielen Menschen schwerfällt. Kreativität erfordert aber auch eine unterstützende Umgebung und Entspannung, damit sie sich entfalten kann. Daher ist beides stark miteinander verbunden.

Laura Wünsche und Stefan Stegmaier (beide Kunstmuseum),
Valentin Hennig (Workshopleiter), Kira Eghbal-Azar (KSG) und
Markus Zeh (Workshopleiter) (v.l.nr.)

Das Kunstmuseum Stuttgart bietet in Zusammenarbeit mit der Karl Schlecht Stiftung einen innovativen Achtsamkeitsworkshop namens „gegenwART“ an.

Speziell entwickelt für Master- und Promotionsstudierende, zielt dieser Workshop darauf ab, durch die Kombination von Kunstbetrachtung und Achtsamkeitstechniken die Persönlichkeitsentwicklung und kreative Kompetenz der Teilnehmer zu fördern.

Über einen Zeitraum von acht Wochenenden erhalten die Teilnehmenden die Möglichkeit, tief in die Welt der Kunst einzutauchen und gleichzeitig wertvolle Fähigkeiten zur Stressbewältigung und Selbstreflexion zu erlernen. Der vierte Workshop ist im Juli zu Ende gegangen.

Dr. Sofia Delgado befragte MBSR-Experte Markus Zeh (Mindfulness-Based Stress Reduction, ganz links im Bild) sowie Künstler und Kunstvermittler Valentin Hennig (Bildmitte) zum Programm.

„Könnten Sie uns zunächst einen Überblick über den Achtsamkeitsworkshop „gegenwART“ des Kunstmuseums Stuttgart geben? Der Workshop erstreckt sich über acht Wochenenden. Gibt es einen speziellen Aufbau, eine Art Dramaturgie?“

Markus Zeh (MZ): „Der Aufbau orientiert sich sehr lose am 8-wöchigen MBSR-Programm. Bei den ersten Kursterminen stehen die Kultivierung einer achtsamen, präsenten Haltung und die freundliche Selbstwahrnehmung im Vordergrund. In den folgenden Terminen die Förderung emotionaler Kompetenzen durch Achtsamkeit: Selbstwirksamkeit – auch unter herausfordernden Bedingungen, Motivation, Führen (sich selbst und andere) mit Empathie und Mitgefühl.“

Valentin Hennig (VH): „Aus der Perspektive des künstlerischen Denkens, Lernens und Handelns gibt es für jede Einheit einen thematischen Schwerpunkt. Dieser ist in seinen Methoden und spezifischen Inhalten jedoch flexibel und kann auf die Bedürfnisse der Gruppe sowie auf neue Ausstellungen im Kunstmuseum reagieren. So wurde beispielsweise im Durchlauf 2024 die Einheit "Digitale Balance" auf Wunsch der Teilnehmenden ins Leben gerufen. Wenn Offenheit und Agilität im Umgang mit einer sich ständig wandelnden Lebenswelt vermittelt werden sollen, muss auch die Struktur unseres Workshops auf Veränderungen reagieren können.“

„Warum findet der Workshop gezielt in einem Kunstmuseum statt? Welche Rolle spielt die Stille und Atmosphäre einer solchen Einrichtung?“

MZ: „Ähnlich wie Meditation, kann die Atmosphäre eines Kunstmuseums und das Betrachten eines Kunstwerks uns dabei helfen, zu entschleunigen, aus Gewohnheitsmustern auszusteigen und gesammelter und fokussierter zu sein. Da sich immer mehr von uns zunehmend verunsichert, ängstlich, depressiv und isoliert fühlen, benötigen wir mehr zeitgemäße Erfahrungsräume, die uns zurückbringen zum entspannten Beobachten, zurück zur Zeitlosigkeit des schlichten Gegenwärtig-Seins. Vor einem Kunstwerk zu stehen, fördert unsere Fähigkeit, still zu werden, um ganz ins Betrachten einzutauchen – die Farben, Linien, Bewegungen zu erleben – die offensichtlichen wie die subtileren Strukturen: ähnlich dem Betrachten unseres Atems und der eigenen Gedanken während einer Sitzmeditation. Durch das einfache Betrachten eines Kunstwerks kann der Betrachtende in einen bewussten Zustand eintreten. Meditation, Yoga und Kunstbetrachtung können wertvolle Gelegenheiten sein, um aus dem zwanghaften Gedankenkarussell auszusteigen und in Kontakt mit dem Reichtum des Moments zu kommen, seinem Potenzial und seinen Möglichkeiten.“

VH: „Dem schließe ich mich vollumfänglich an. Zudem ist die mit allen Sinnen erlebte Kunstrezeption vor einem Original im Kunstmuseum – sei es ein Gemälde von Willi Baumeister oder eine raumgreifende Installation von Gabriela Oberkofler – ein wunderbarer Ausgangspunkt, um in die eigene schöpferische Praxis einzutauchen. Das Kunstmuseum Stuttgart bietet durch seine wechselnden Ausstellungen und Sammlungsschwerpunkte der modernen und zeitgenössischen Kunst einen relevanten und aktuellen Bezugsrahmen. Durch das achtsame Erkunden der Wirkung und des Entstehungsprozesses eines Kunstwerks werden menschliche Maßstäbe angesetzt. Der Kunst begegnen wir so niedrigschwellig und begreifen sie als jedem Menschen innewohnende und mögliche Tätigkeit – mit der letztendlichen Einsicht: Auch ich bin schöpferisch, auf meine Weise!“

„Woran mangelt es jungen Absolventen am meisten? Haben Sie das Gefühl, dass auf Achtsamkeit generell zu wenig Wert gelegt wird?“

MZ: „Wir haben in diesem Jahr ein Modul dem Thema „Digitale Balance“ gewidmet. Durch die ständige Verfügbarkeit von digitalen Medien fällt es vielen zunehmend schwerer abzuschalten, Pause zu machen, nichts zu tun. Die Teilnehmer:innen leiden vermehrt unter Stress und Überforderung. Das ist auch im Kurs spürbar und die Unterstützung mit „Achtsamkeits-Tools“ wird dankbar angenommen.“

VH: „Um wirklich etwas Kreatives zu schaffen und bestehende Ideen weiterzuentwickeln, bedarf es auch in der Kunst der Kontemplation, Inspiration und manchmal dem Aushalten von Langeweile und Unproduktivität. Gerade das heutige gesellschaftliche Paradigma der ständigen Produktivität lässt uns jedoch nicht mehr pausieren und den Blick nach innen richten. Fragen wie "Wie empfinde ich das? Was macht es mit mir? Wie setze ich mich dazu schöpferisch und konstruktiv in Beziehung?" können in einer sich beschleunigenden und unaufmerksamen Umwelt nur noch selten gestellt werden. Wir haben eher das Gefühl, gelebt zu werden, als selbst unser Leben zu gestalten.“

© Bild: gegenwART 2024 / Kunstmuseum

„Achtsamkeit ist keine Technik, sondern eine Seinsweise.“

Jon Kabat-Zinn

„Welche Techniken erlernen die Teilnehmer während des Workshops?“

MZ: „Jon Kabat-Zinn, Begründer von MBSR, betont immer wieder: „Achtsamkeit ist keine Technik, sondern eine Seinsweise“.  Wir können Achtsamkeit in alle Aspekte unseres Daseins bringen.  Dafür gibt es formelle Übungen wie Bodyscan, Yoga, Sitzmeditation und andere. Wesentlich ist, dass wir für den Alltag und im Alltag mit all seinen Herausforderungen üben: Mit Routinetätigkeiten wie Essen, Duschen oder Radfahren. In Konflikten, mit schwierigen Gefühlen, in der Kommunikation mit anderen.  Präsenter sein und weniger vorschnell zu urteilen. Darüber hinaus Übungen zur Empathie und Mitgefühl, achtsame Kommunikation…wichtige Fähigkeiten für die Teamfähigkeit, auch im beruflichen Alltag.“

VH: „Es geht nicht darum, Gestaltungstechniken zu erlernen und ästhetisch Erquickendes zu schaffen. Vielmehr wird das Wechselspiel von Wahrnehmung, Imagination, Realisation, Kommunikation und Reflexion im künstlerischen Prozess durch diverse Übungen erfahren. Der Übertrag auf eine erfüllende und sinnhafte Lebensgestaltung wird angeregt, liegt aber letztendlich in der Eigenverantwortung der Teilnehmenden.“

„Bei Achtsamkeit geht es viel um die Beschäftigung mit sich selbst. Ist im Workshop, der mit anderen zusammen stattfindet, denn dafür genügend Raum gegeben?“

MZ: „Das ist ein häufiges Missverständnis, Achtsamkeit sei nur Innerlichkeit. Wir üben, präsent im gegenwärtigen Moment zu sein. Dazu gehört die „äußere Umwelt“ über die fünf Sinne (Sehen, Hören, Riechen…), die Welt unserer Beziehungen (Beziehungsaspekt) und die innere Welt der Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen. Ein wesentliche Lernerfahrung ist unser elementares Verbundensein mit allem Lebendigen: wir existieren nicht als getrennte, eigenständige Wesen, sondern nur in gegenseitiger Verbundenheit. Daraus entstehen Empathie, Mitgefühl und Verantwortung über den eigenen Tellerrand hinaus. So ist z.B. ein wesentlicher Baustein in den dialogischen Übungen das „achtsame Zuhören“, möglichst im sogenannten „Anfängergeist“, der nicht gleich urteilt und bewertet, sondern offen, empathisch und interessiert bleibt.  Um andere angemessen wahrnehmen zu können, ist die eigene Selbstwahrnehmung entscheidend: bewusst und freundlich wahrzunehmen, welche Gedanken, Gefühle, Empfindungen, Impulse in uns ausgelöst werden, ohne automatisiert und unbewusst auszuagieren und damit viel Schaden anzurichten:  Vom Zwang zur Wahl!“

„Wie reagieren die Teilnehmer, wenn sie ihre Komfortzone verlassen müssen, um Neues auszuprobieren? Kommt der eine oder andere dabei auch an seine Grenzen?“

MZ: „Sich selbst bewusster wahrzunehmen, insbesondere bei unangenehmen Körperempfindungen oder Emotionen, kann natürlich herausfordernd sein. Ebenso, zu bemerken, wie ausgeliefert man an das zwanghafte Denken und Problematisieren ist und wie schwer es ist, dies loszulassen. Es ist sicherlich kein Wellness, obwohl wir auch viel Spaß miteinander haben! Bestandteil von Achtsamkeit-Praxis ist „gut auf sich zu hören“ und die eigenen Grenzen wahrzunehmen und zu respektieren. Wir legen viel Wert auf eine respektvolle, empathische, wertschätzende und nicht-urteilende Gruppenatmosphäre. Niemand wird zu etwas gezwungen. Dabei entsteht eine Verbundenheit untereinander, die von den Teilnehmer:innen sehr unterstützend und ermutigend erlebt wird, wenn es mal unangenehm wird.“

VH: „Sicherlich. Die Grenzen werden jedoch respektiert und bei Bedarf auch reflektiert. Wie Markus schon erläutert hat, wird innerhalb des Workshops ein angstfreier, wertschätzender, spielerischer und humorvoller Raum geschaffen. Diesen Raum zu kreieren und zu schützen, obliegt unserer Verantwortung als Trainer.“

„Nach einer Zeit verblasst das Erlernte oder Erlebte wieder. Welche Tipps können Sie generell jungen, anstrebenden Führungskräften zum Thema Selbstfürsorge über den Workshop hinaus geben?“

MZ: „Ähnlich wie beim körperlichen Fitness-Training laden wir ein, auch nach dem Kurs weiterhin regelmäßig den eigenen Geist zu trainieren. Dazu gibt es hilfreiche Apps, Kurse, Seminarhäuser, Gruppen, auf die wir hinweisen. Es sich gönnen, immer mal wieder bewusst eine Auszeit zu nehmen, ein Retreat zu besuchen.“

VH: „Und das Kunstmuseum als einen Ort der Stille und Kontemplation zu begreifen. Selbstfürsorge ist ein Teil der Selbstführung, was wiederum die Grundlage bildet, auch andere Menschen führen zu können. Die "Kraft" als Führungskraft schöpfe ich aus der achtsamen Selbstführung.“

Wir sagen herzlich Dank für das Interview!

Der nächste Durchgang von gegenwART findet im Frühsommer 2025 statt. Bewerbungen für das Stipendienprogramm können ab Herbst 2024 beim Kunstmuseum eingereicht werden.